Eröffnung der Ausstellung "Wiezieni za Wiare. Swiadkowie Jehowy a hitleryzm" im Staatlichen Museum Auschwitz, Polen [Imprisoned for Their Faith. Jehovah's Witnesses and the Nazi Regime | Für ihren Glauben in Haft: Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime], 21. September 2004

Die Rolle der Zeugen Jehovas
in der KZ-Häftlingsgesellschaft 1933–1945
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Ich freue mich, Ihnen anläßlich der heutigen Ausstellungseröffnung zur NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas in Auschwitz einen Überblick zu deren Stellung in der KZ-Häftlingsgesellschaft geben zu können und danke Ihnen dafür.

SS-Bürokraten erfanden 1936 ein Kategorisierungssystem für KZ-Insassen, wobei sie Haftgruppen gemäß ihrer Relevanz und „Kennzeichen“ mittels Winkel und Farben festlegten. Die Stoffwinkel wurden offenbar ab 1937 in den Konzentrationslagern (KZ) eingeführt, wobei die Gruppe der Zeugen Jehovas die Grundfarbe Violett erhielt. (Wie Sie wissen, erhielten zum Beispiel die "Politischen" rot, Juden zusätzlich einen gelben Winkel.) Die Identifizierung und Isolierung der Gefangenen durch Farbcodes erleichterten SS und Kapos deren Stigmatisierung, spezifische Verhöhnung und „Bestrafung“.

Worauf gründete die SS ihre Klassifikation im Falle der Zeugen Jehovas? Welche Relevanz kommt der Haftgruppe insgesamt von 1933 bis 1945 zu? Lassen Sie mich bitte gleich zu Beginn einen Überblick geben, wobei wir das Regime in ein 4-Phasen-Model einordnen:

1933/1934: Die 2-jährige Phase der Herrschaftsübernahme, die Aufbauphase des Regimes – die Zeit der frühen KZ:

Die verfolgten Zeugen Jehovas bilden von Anfang an eine spezifische NS-Opfergruppe und sind in der Folge zu Hunderten in den frühen KZ zu finden.

1935–1938: Die 4-jährige Phase der Herrschaftssicherung des Regimes – die Zeit des Ausbaus und der Reorganisierung der KZ:

Zeugen Jehovas sind zu Tausenden in den KZ, werden zum „besonderen Haßobjekt der SS“ und erhalten den „lila Winkel“.

1939–1942: vier Jahre voll funktionierende Herrschaft des Regimes – die Zeit der Internationalisierung der KZ-Gesellschaft während des Weltkrieges:

Obwohl eine relativ kleine Gruppe, steigert sich der Haß der SS, weil die Zeugen Jehovas den Krieg nicht unterstützen.

1943–1945: Die über 2-jährige Phase der Auflösung und des Niedergangs des Regimes – die Zeit intensiverer wirtschaftlicher Ausbeutung der KZ-Sklaven (während der fabrikmäßige Holocaust in den Vernichtungslagern bereits begonnen hat):

Ein gewisser Teil der in KZ inhaftierten Zeugen Jehovas muß Zwangsarbeiten in Haushalten, Handwerkskommandos usw. tun, doch bleiben sie alle „Staatsfeinde“ für das Regime.

Die Unvereinbarkeit zwischen Nationalsozialismus und der Bibelforscherlehre sowie die staatliche Verfolgung der Zeugen Jehovas oder Bibelforscher setzte gleich in der ersten Phase ein – weil sie Führerkult, Rassenwahn, Nationalismus und Krieg ablehnten sowie das kommende Friedensreich Gottes auf Erden predigten. Bereits im April 1933 gab es Betätigungsverbote für Zeugen Jehovas. Der Schuhmacher Friedrich Parsieglo kam als einer der ersten von ihnen im April 1933 für drei Monate in das KZ Sonnenburg.

Von den rund 1.000 bis März 1934 verhafteten Zeugen Jehovas waren etwa 400 in einem der frühen berüchtigten KZ, also 40 Prozent (was später als Vergleichsgröße dienen soll). Das war mit ein Grund, warum die Mitgläubigen im In- und Ausland am 7. Oktober 1934 mit 20.000 Telegrammen und Briefen bei Hitler gegen die Verfolgung protestierten. Zeitgenössische Wachtturm-Berichte nennen etliche Namen früher KZ und erwähnen, daß die „politischen Häftlinge und Juden sogar noch schlimmer [als die Zeugen Jehovas] behandelt“ (Kursivschrift hinzugefügt) wurden.

1935 begann der Ausbau der KZ und die allgemeine Wehrpflicht. Jetzt legten Gestapo und SS den Zeugen Jehovas in „Schutzhaft“ eine Erklärung zum Abschwören ihres Glaubens vor, um ihre Freilassung und Kollaboration zu bewirken. Ihre Unbeugsamkeit ließ die Zeugen Jehovas ab 1935 zum „besonderen Haßobjekt der SS“ (Garbe) werden. Zeitzeuge Karl Kirscht bemerkt: „Jehovas Zeugen wurden in den KZ am meisten schikaniert. Man glaubte, sie dadurch zur Unterschrift einer Widerrufserklärung bewegen zu können.“

Legislative und Exekutive intensivierten ab 1935 ihre Verfolgung – die Zahl der Zeugen Jehovas, die vor der Verurteilung bzw. nach Strafverbüßung in ein KZ kamen, nahm stark zu. Im Sommer 1935 waren zum Beispiel im Straflager Sachsenburg etwa 400 Bibelforscher, was ein Anteil von zeitweise 40–57 Prozent an der Gesamtzahl [bei 678–1.000 Insassen] ausmachte.

Ab 1935/1936 begann die Reorganisation der KZ und Oranienburg (nördlich von Berlin) wurde statt Dachau das neue Zentrum der SS. Dort wurde das neues Musterlager Sachsenhausen aufgebaut, das die Grundform eines fast gleichschenkligen Dreiecks hatte. In den folgenden zwei Jahren führte man die KZ-Häftlingsabzeichen ein, die ebenfalls die Form eines Dreiecks haben.

Bislang wird geschätzt, daß in der Vorkriegszeit der Anteil der Zeugen Jehovas an der jeweiligen Belegstärke der KZs zwischen 5 und 10 Prozent und in den Frauen-KZ bei über 40 % lag. Gemäß neueren Forschungen stellten die Zeuginnen Jehovas zum Beispiel im zentralen Frauen-KZ Moringen bis 1937 mit 45,9 Prozent die größte Häftlingsgruppe. Auch die Gesamtstärke der Zeugen Jehovas in allen KZ erreichte offensichtlich zeitweise und punktuell höhere Spitzenwerte.

Im Winter 1936/1937 sank die Belegungszahl in den KZ mit insgesamt rund 7.500 auf den niedrigsten Stand. Ein Wachtturm-Bericht vom März 1937 spricht von fast 4.000 Glaubensanhängern in Gefängnissen und KZ. Was bedeutet das?

Legt man das 40-Prozent-Verhältnis zugrunde, dann waren Anfang 1937 wohl mindestens 1.600 Zeugen Jehovas in einem KZ und könnten für kurze Zeit mindestens 20 Prozent des KZ-Gesamtbestandes gestellt haben!

Bis Ende 1937 stieg die Zahl wahrscheinlich sogar auf ca. 2.400 Zeugen Jehovas in den KZ, das heißt auf 6.000 Inhaftierte insgesamt. Wie kam es zu dem enormen Anstieg?

Die Gestapo nahm im August 1936 Massenverhaftungen vor. Die Zeugen Jehovas reagierten im Dezember 1936 und Juni 1937 mit zwei spektakulären reichsweiten Flugblattaktionen. Die Inhaftierungen zogen weiter an. Das war die Zeit der großen „Bibelforscherprozesse“. Selbst Freigesprochene nahm die Gestapo in „Schutzhaft“, und ab April 1937 alle, die ihre Haftstrafe verbüßt hatten.

Die Zuweisung des exklusiven lila Stoffwinkels fiel also in eine Zeit, als die Bibelforscher-Häftlinge zahlenmäßig eine exponierte Rolle spielten.

Das Menschen-Reservoir in den KZ wurde aber bald wieder mit mehr Arbeitssklaven aufgefüllt – mit sogenannten „Berufsverbrechern“ [ab März 1937] und dann mit sogenannten „Asozialen“ [ab Juni 1938] und arbeitsfähigen Juden. Ab September 1938 kamen Gefangene aus Österreich.

Nach dem Novemberpogrom 1938 stieg die Gesamtzahl der Häftlinge in unerträglichem Maße. Die rein statistische Bedeutung der Lila-Winkel-Häftlinge sank, nicht aber die Wut und der Haß der SS auf sie.

Alle Zeugen Jehovas, die ohnehin seit 1935 verschärfte Haft im „Strafkompanien“ hatten, kamen ab 1937/1938 in die „Isolierung“ (mit Stacheldraht abgetrennter Bereich im Strafblock). Dort mußten zwar alle Häftlinge die schmutzigsten und schwersten Arbeiten verrichteten, auch sonntags, doch die Bibelforscher wurden bis „an den Rand der Vernichtung“ (ein Überlebender) gequält und dem Hunger ausgesetzt. Sie hatten eine Zeitlang absolute Postsperre, danach durften sie in der Regel nur fünf Briefzeilen schreiben.

Mit Kriegsausbruch verschlechterte sich die Situation der nonkonformen Zeugen Jehovas weiter. Im harten Winter 1939/1940 starben zum Beispiel fast 100 von den rund 400 Zeugen Jehovas im KZ Sachsenhausen durch Mißhandlung, Hunger oder Erschöpfung.

Die Internationalisierung der KZ-Häftlingsgesellschaft, die mit dem Weltkrieg einsetzte, ließ die Lager überquellen – nicht nur die Zeugen Jehovas, auch die KZ-Häftlinge deutscher Nationalität waren mit der Zeit eine Minderheit. Dennoch behandelte die SS (und Mithäftlinge) die Bibelforscher bis zum Kollaps des Lagerkosmos 1945 als Gruppe mit einer tatsächlichen „Sonderstellung“, was auf ihrem Verhalten, Ruf und ihrer Präsenz in etlichen Außenlagern beruhte.

Im Lager Wewelsburg blieben die Zeugen Jehovas mit fast 100 Prozent (ab Mai 1940) und in einigen Außenkommandos bis 1945 stark präsent – aber das sind Ausnahmen. Eigentlich bildeten sie 1939 nur noch im Frauen-KZ Lichtenburg und anfangs im Nachfolgelager Ravensbrück mit 40 Prozent eine zahlenmäßig signifikante Häftlingsgruppe. (Viele dieser Frauen kamen ab dem Frühjahr 1942 in das neue Frauenlager in Auschwitz, wie in der Ausstellung gezeigt wird.)

Das Jahr 1942 markierte einen Wendepunkt durch die Definierung der „wirtschaftlichen Aufgabe“ der KZ und einer leicht „verbesserten“ Verpflegung der KZ-Sklaven, die in kriegswichtigen Betrieben und durch die Wirtschaft ausgebeutet wurden. Im Januar 1943 wies Himmler an, das „Bibelforscherproblem“ pragmatisch zu lösen und ihre Qualitäten (Fleiß, Ehrlichkeit, keine Fluchtgefahr) auf Farmen, in Handwerkerkommandos, SS-Haushalten und „Lebensborn“-Heimen zu nutzen, wo sie nichts mit dem Krieg zu tun hatten.

Allerdings arbeiteten Zeugen Jehovas bereits seit 1938 als Handwerker oder Bauhelfer in Außenkommandos des KZ Dachau, besonders ab dem Sommer 1939, als sie durch ihre Zuverlässigkeit und unbeirrte Haltung der SS einen gewissen Respekt abgerungen hatten. (Die Zeugen Jehovas wurden 1936 auch zum Aufbau des KZ Sachsenhausen gezwungen, ebenso waren die Bibelforscher 1937 am Aufbau in Buchenwald, 1939 in Ravensbrück und 1940 viele von ihnen im KZ Wewelsburg-Niederhagen beteiligt. Ab Juni 190 kamen auch männliche Häftlinge nach Auschwitz.)

Die Zeugen Jehovas blieben „Staatsfeinde“ für das Regime – im April 1944 ordnete Himmler eine überraschende Durchsuchungsaktion in mehreren Stammlagern an. Große Mengen Wachtturm-Literatur wurden gefunden und die „Rädelsführer“ schwer bestraft.

Im chaotischen Finale des Regimes f ührten die gegenseitige Hilfe in der Gruppe der Zeugen Jehovas, auch auf den „Todesmärschen“, zu einer niedrigeren Sterberate. Dagegen kam mindestens ein Drittel der mehr als 700.000 registrierten KZ-Häftlinge ums Leben.

Bis zur Befreiung 1945 hatten mindestens 4.100 Zeugen Jehovas (soweit namentlich bekannt) in einem KZ gelitten – 2.800 Deutsche und 1.300 anderer Nationalität. Von ihnen verloren etwa 1.000 Personen ihr Leben als KZ-Häftlinge – 70 Prozent der über 1.400 Todesopfer (über 360 Hinrichtungen) unter den insgesamt 12.000 Verfolgten.2

Fassen wir zusammen: Die verfolgten Zeugen Jehovas sind von Anfang an in frühen KZ präsent und werden ab 1935 zum „besonderen Haßobjekt der SS“. In den Jahren 1936/1937 – als die Häftlingskategorien festgelegt und gekennzeichnet wurden – kam der Größe der Häftlingsgruppe mit dem lila Winkel eine besondere Signifikanz zu, die bislang häufig übersehen wird.

Das spricht für eine internationale Neubewertung der NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas in Forschung und Ausstellungen. Der „lila Winkel“ als Dokument erinnert und mahnt zugleich!

Die Ausstellung in Auschwitz würdigt die NS-Opfergruppe mit dem lila Häftlingswinkel in vorbildlicher Weise. Wir alle wünschen ihr lebhafte Aufmerksamkeit und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Staatlichen Auschwitzer Museums weiterhin Gelingen bei ihrer Gedenk- und Forschungsarbeit!

Vielen Dank!

Johannes S. Wrobel, Selters/Taunus, Deutschland*

* Gründer und Leiter des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas (1996–2008);
nach 2008 freier Autor und Heimatforscher, vgl.
www.lilawinkel.de (Stand 2023).

Zum deutschen Online-Manuskript und der polnischen Übersetzung: www.lilawinkel.de/talks.htm#2004-auschwitz

1 Zusammenfassung des Referats „Jehovah’s Witnesses in Nazi Concentration Camps, 1933–1945“ vom 21. Februar 2004, Staffordshire University (England), Symposium „The Jehovah’s Witnesses and the Two Dictatorships“. Eine Veröffentlichung mit Endnoten war seinerzeit in Vorbereitung und wurde dann 2006 realisiert:

Johannes S. Wrobel,
Jehovah's Witnesses in National Socialist Concentration Camps, 1933-45, in: Religion, State & Society, The Keston Journal, Routledge Taylor & Francis Group, ISNN 0963-7494, vol. 34, no. 2 (June 2006), pp. 89-125. Siehe www.lilawinkel.de/published.htm#rss-wrobel-concentration-camps.

Kurzfassungen des Referats:

Ders., "Oft stand es auf Leben und Tod." Zeugen Jehovas als KZ-Häftlinge in Auschwitz, in: "auschwitz information", Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Johannes Kepler Universität Linz, 68. Ausgabe, März 2005, S. 6–7. Siehe
www.lilawinkel.de/published.htm#auschwitz.

Ders., Zeugen Jehovas im Konzentrationslager – eine konstante Häftlingskategorie 1933–1945, in: Informationen, Studienkreis Deutscher Widerstand, Frankfurt am Main, Nr. 60, Oktober 2004, 29. Jg., S. 32–34. Siehe
www.lilawinkel.de/published.htm#haeftlingsgruppe.

2 Johannes S. Wrobel: Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas in Frankfurt am Main, in: Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Zeitschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft, 2 (2003), S. 391, www.jwhistory.net/text/wrobel-frankfurt2003.htm. Siehe auch www.lilawinkel.de/published.htm#wrobel-ns-verfolgung-ffm.

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